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John Cage / Sigune von Osten "Musicircus"

Die Befreiung der Töne
Eindrücke von John Cages "MusiCircus" zur Eröffnung der Festspiele Ludwigshafen ? Umsetzung Sigune von Osten
... Mit dem Cage-Projekt "MusiCircus" befreit Sigune von Osten die Klänge aus der Nebensächlichkeit. Fünf Stunden lang sind Geräusche die Hauptsache in der Stadt, auf dem Theaterplatz und im Pfalzbau selbst.
.... Beteiligt sind manipulierte Autohupen, Feuerwehr- und Polizeiautos mit unterschiedlichen Martinshörnern, brausende Windmaschinen, sprühende Wasserschläuche, klingelnde Straßenbahnen, rufende Kirchenglocken und das Traktoren-Brumm-Quartett mit dem röhrenden und Diesel schwitzenden Lanz-Bulldog von 1940. Und natürlich Menschen. Musiker genauso wie Zuschauer.
... Um sieben Uhr verlagert sich das Geschehen in das Theatergebäude... Allerorten Instrumente und Menschen, die Töne erzeugen. Rhythmen und Melodien verschiedener Kulturen, Musiker, Tänzer und Klangkünstler jeden Alters arbeiten zusammen.... An mannshohen Kakteen sind hochsensible Mikrophone angeschlossen worden. Fünf junge Frauen streichen mit sanfter Hand über die Stacheln und entlocken den Kakteen dabei glucksende, knallende, ploppende Geräusche. Dann öffnen sich gegen acht Uhr die Pforten des Zuschauerraumes......  Nach und nach erwachen Orchester, Ensembles und Musikgruppen auf der Bühne, in den Rängen, mitten im Publikum. Chöre setzen ein, sie singen die Fetzen einer Melodie. Drei Chinesen in farbigen, seidenen Gewändern spielen auf historischen Saiten- und Blasinstrumenten etwas, das nach fernem Osten und irgendwie auch nach Rockmusik klingt.
Es klingt nach Swing, Jazz, und Klezmer. Überall. Auf allen Rängen. Da steht eine Posaune auf mitten in Reihe 19. Da noch eine Trompete. Vorne übernimmt jetzt eine Horde Glockenspiele und Xylophone... Ein präpariertes Klavier gibt es auch... Oben im ersten Rang rechts bläst ein Mann durch einen Schlauch in einen Trichter. Nach Wölfen, Schiffshupen und Einsamkeit klingen diese zum Singen gebrachten Haushaltsgeräte. Auch eine Rockband ist da. Und ein Mädchenchor singt gegen die Geräuschwand an. Die ersten Fetzen erreichen das Ohr:" We are the children", singen sie.. .. Und das ist gar nicht kitschig...... Das Ohr ist oft erstaunt, verblüfft, neugierig, aber es kann sich einlassen. Und das spüren die Zuschauer. Sie vertrauen sich der Führung von Sigune von Osten an und folgen ihrer Klang-Choreographie..... Stehend wird applaudiert. Eine Dame über 60 pfeift auf zwei Fingern. Heute Abend wurden Töne und Ohren befreit.

Die Rheinpfalz / Die Reportage

Einsatzbereite Musiker bleiben stumm
...im Jahr 2005 verklingt er große "MusiCircus" im Ludwigshafener Pfalzbau mit minutenlangen Flüstern und Husten im Zuschauerraum. Die Rockband "DUNE" im zweiten Rang, das Zither- und Mandolinenorchester auf der Bühne, der Kinderchor auf den Stufen, das Bläserquintett "BRASSerie" im ersten Rang ? alle sind einsatzbereit, halten die Instrumentein Spielpositionen, doch sie bleiben stumm. Irgendjemand klatscht, irgendwo, und hält sofort wieder inne, weil er merkt, dass seine Sitznachbarn diese Spannung der Stille noch ein wenig länger aushalten wollen.
John Cage ist 1992 verstorben, doch die Sängerin Sigune von Osten hat die Eröffnung der ersten Festspiele Ludwigshafen ganz in seinem Sinne gestaltet.

Allgemeine Zeitung Mainz / Feuilleton

Wenn wir die ganze Welt gleichzeitig hören, erklingt das Nichts
Mit einem gigantischen Paukenschlag namens MusiCircus von John Cage begannen die ersten Festspiele Ludwigshafen

... eine Klanglawine aus USA, Großbritannien, Bali, Deutschland, China, der Pfalz und der Schweiz, aus dem Land des Rock und Pop und Jazz, der Folklore und der Klassik und anderen Kunstmusiken.
Alles klingt, und wir hören nichts, sprich: Wir nehmen das Singuläre nicht mehr wahr. Wir hören - zumindest scheinbar ? die ganze Welt zur gleichen Zeit. Alle Länder dieser Erde. Alle Planeten. Alle Ethnien. Es ist ein Aneinander-Vorbei, ein Nebeneinander und ein Miteinander  sondergleichen. Es gibt Momente, in denen ist das berühmte Weiße Rauschen hörbar nah, wenn also alle Sinus-Frequenzen gleichzeitig erklingen und wir scheinbar endlos so etwas wie ein stimmloses "SCH" hören. Ist dieses "SCH" womöglich das Nichts?....

Mannheimer Morgen

Musik wie Schach und Pilze
Sigune von Osten heißt die Künstlerin, die den Abend nach der Idee John Cages zu Eröffnung der Ludwigshafener Festspiele künstlerisch auf die Beine gestellt hat.
... den eigentlichen Zauber erlebte, wer sich von 19 ? 22 Uhr in das Theaterinnere wagte: durch ein Labyrinth aus in Gummimilch gehärteten Theaterkostümen, die über Baugittern zu Wänden erstarrt waren, traten die Zuschauer in das untere Foyerein. Fast schwerelos glitten Skater über den glatten Marmorboden, sachte durch die Besuchermengen hindurch, die an verschiedenen Instrumenten, Musikern und Objekten vorbei flanieren konnten. Neue Musik, gespielt auf dem kleinkindgroßen Toypiano oder chinesische alte Musik auf historischen Instrumenten. Auf einem Newsticker  schweben in Leuchtschrift Buchstaben vorbei, die lautlos Zitate von John Cage unter die Leute bringen..... Er sich in die oberen Foyers vorarbeitete, kam vorbei an Klanginstallationen wie den von Cage selbst zu Instrumenten umfunktionieren Kakteen, an Tänzern, Sängern, gewohnter und ungewohnter Musik.
Als sich um 20 Uhr die Pforten des Theatersaals öffnen wird spürbar, was Neue Musik eigentlich bedeutet. Hier ist nichts dem Zufall überlassen, nicht wirkt beliebig, obwohl unendlich viele Einzelkünstler und Ensembles auf der Bühne, im Zuschauerraumund auf den Rängen miteinander musizieren. Das Licht hebt die Musiker, die gerade spielen, aus dem Halbdunkel heraus und lässt sie anschließend wieder in die Dunkelheit eintauchen. Musikstile und Instrumente werden kombiniert, viele Klänge sind neu, unerwartet oder auch lustig..... An manchen Stellen wird zart mitgeklatscht, und es ist erstaunlich, wie sich dieses Klatschen vom bierzeltigen Volksmusikschunkeln unterscheidet. Leise wispern die Zuschauer, um dem Nachbarn die eigene Verwunderung oder Begeisterung mitzuteilen.
Dass er Abend trotz all dieser Lebendigkeit im Publikum nie aus dem Ruder läuft und die Neugier auf die ungewohnten Klänge jeden Augenblick der Aufführung durchdringt, liegt sicher an dem konzentrierten und lustvollen Zusammenspiel aller Akteure und an der einfühlsamen künstlerischen Leitung Sigune von Ostens. Die beeindruckende Künstlerin hat in Ludwigshafen gezeigt, dass Neue Musik Freude macht und kein Zufallsprodukt ist.

Die Rheinpfalz, Kulturseite

alle Fotos: Walter Lhotzky